Porträt einer verletzten Seele
15. May 2019 » Gesehen & gehört
Vincent van Gogh gilt als Begründer der modernen Malerei. Er hinterließ in nur zehn Jahren 864 Gemälde und mehr als 1000 Zeichnungen. Zu Lebzeiten verkaufte er kein einziges Bild. Heute erzielen seine Werke Rekordpreise. Julian Schnabel schuf ein filmisches Porträt einer verletzten Seele, die durch extreme Kameraführung und Perspektivenwechsel tief blicken lässt.
Wer Julian Schnabels "Schmetterling und Taucherglocke" (2007) gesehen hat weiß, dass der Regisseur gerne den Blick des Protagonisten einnimmt. Darin porträtierte er einen Patienten, der am sogenannten Locked-in-Syndrom litt und nur mehr ein Augenlid bewegen konnte. Das eingeschränkte Blickfeld war Schnabels filmischer Fokus, aus dem eine beklemmende, in sich gefangene Gefühlswelt entstand. In seinem aktuellen Film "Vincent van Gogh - an der Schwelle zur Ewigkeit" folgt er einer wirren Figur, die sich durch Gestrüpp hindurch kämpft. Er blickt in gleißendes Sonnenlicht und in dunkle Kellerhöhlen. Alles irgendwie unscharf. Dann richtet er die Kamera auf Pinselstriche, die kaputte Schuhe malen, aber auch bunte Landschaften in strahlenden Farben. Und immer wieder ist es der Blick des Malers, der verzagt und verirrt in die Welt starrt. Tiefe Falten haben sich in sein Gesicht gegraben, gezeichnet von der ständigen Suche nach Liebe und Anerkennung. Es sind die blauen Augen von Vincent van Gogh, durch die wir in die Tiefe seiner verirrten Wahrnehmung blicken.
Ein Maler erzählt über einen Maler
Regisseur Julian Schnabel ist auch Künstler. Seit seiner ersten Solo-Ausstellung 1979 im Contemporary Arts Museum Huston arbeitete er sich am Kunstmarkt beständig nach oben. Als Mitbegründer des Neoexpressionismus und Schöpfer von "Plate Paintings", deren Grundlage zerbrochenes Porzellan ist, schuf sich Schnabel ein Alleinstellungsmerkmal. Sein Filmdebüt gab er 1996 mit einem anderen Maler-Porträt: In "Basquiat" dokumentierte er das Leben des genialen Grenzgängers, der nur 28 Jahre alt wurde. Schnabel zelebrierte sex, drugs, rock´n´roll und den ungeheuren Lebenshunger des jungen Basquiat, der allzu schnell gestillt wurde. Auch damals nahm er mit der Kamera eine fremdartige Perspektive ein und schuf damit ein packendes, filmisches Werk.
Die inneren Bilder
In "An der Schwelle zur Ewigkeit" dominiert extremer Weitwinkel, mit dem der Maler mit einer Staffelei am Rücken, auf endlos weiten Feldern eingefangen wird. Eine zitternde Handkamera legt den Blick auf Plenairmalerei frei und zeigt einen Manischen, der sich von Kindern ängstigen lässt. Bisweilen kommen auch Klischees auf, wenn Vincent van Gogh (Willem Dafoe) mit einem Priester (Mads Mikkelsen) über Erfolg und Glaube philosophiert. Kaum der Zwangsjacke entstiegen, folgt ein depressiver Dialog inmitten grauer Mauern, die die inneren Bilder des Malers erahnen lassen. Fesselnd wird die rigide Ausgrenzung bewusst, an der van Gogh ein Leben lang litt.
Julian Schnabel ist fasziniert von Künstlerfiguren, die Genie und Wahnsinn in sich vereinen, bei denen Konflikte und Dramen unausweichlich sind. Eindringlich die Szene, in der sich Vincent van Gogh nach einem Streit mit Künstlerkollegen Paul Gauguin (Oscar Isaac), einen Teil seines linken Ohres abschnitt. In Schnabels Film lebt man die letzten drei Jahre des großen Malers intensiv mit. Die Jahre des Scheiterns und der verzweifelten Flucht aus Paris nach Arles. Die Einsamkeit des Malers, der hastig suchend dicke Farbschichten auftrug, um Bildern etwas Skulpturales zu verleihen. Genau diese Technik verdammte ihn damals zur Erfolglosigkeit. Heute gilt der pastose Farbauftrag als Wegweiser in der modernen Kunst. Heute sind van Goghs Bilder viele Millionen wert.
Der Blick hat sich gewandelt
In Julian Schnabels Film bekommt man eine Ahnung davon, wie sich der gestrauchelte Maler gefühlt haben könnte. Sein Leiden, sein Hoffen und Sehnen, seine innige Verbundenheit mit Bruder Theo van Gogh (Rupert Friend). Das ist genau der veränderte Blick, der Filmografien so guttut. Vincent van Goghs biografische Details wurden schon oft bis ins Kleinste zerlegt: 1956 mit Kirk Douglas, 2010 mit Benedict Cumberbatch und vergangenes Jahr mit "Loving Vincent" als Animationsfilm, der sein ganzes Leben in einen gemalten Krimi packte. Julian Schnabel hat den Blick auf den großen Post-Impressionisten verändert. Er zeigt die kurze, intensive Lebenszeit eines exzessiven Genies. Teils subtil, teils verstörend, aber immer spannend. Ein besonderer Film für Freunde der Kunst, für die der Blick auf ein Bild das Tor zur Welt ist.